Im Vorfeld seines Vortrags beim 16. Südbadischen Anwaltstag am 24. Juni 2016 in Rust zum Thema “Auswirkungen von digitalen Rechtsdienstleistungsangeboten auf den Anwaltsmarkt” hat sich Chris Vaagt dankenswerter Weise Zeit für ein Interview genommen.
Zur Person: Chris Vaagt berät seit 1997 Rechtsanwaltskanzleien im kontinetaleuropäischen Bereich, insbesondere zu zentralen Veränderungsvorhaben in Partnerschaften, Strategie, Organisation und Kultur sowie durch die Moderation von Partnerschaftsversammlungen, Reflexionsarbeit, Coaching sowie der Begleitung von Management Teams
Aus dem Kreis der Teilnehmer seines im Jahr 2003 beim Freiburger Anwaltverein durchgeführten Workshops hat sich der AK Kanzleimanagement gegründet, dessen Mitglieder sich seither mit den Themen des Rechtsanwalts als Unternehmer befassen.
Herr Vaagt, beobachten Sie in Ihrer täglichen Arbeit als Changemanager für Lawfirms Denkmuster in der Anwaltschaft, die Innovationen, insbesondere im digitalen Bereich entgegenstehen?
Im Selbstbild sind Anwälte immer konservativ, und kritisch Neuerungen gegenüber. In Wirklichkeit sind Anwälte extrem schnell, relevante Änderungen im Umfeld aufzunehmen und für sich umzusetzen, wenn sie ihnen oder ihren Mandanten einen Vorteil versprechen. Der Anwaltsmarkt als Ganzes ist extrem innovativ, es gibt praktisch keinen Bereich, in dem sich nicht ein Anwalt spezialisiert hat; die sehr dezentrale Marktstruktur der Anwaltschaft (etwa gegenüber Banken) erlaubt es, sehr individuelle Lösungen für Mandanten zu finden.
Im Bereich Digitales sind und werden Anwälte dann bereit sein. Änderungen aufzunehmen, wenn sie einen Vorteil versprechen. In der Regel ist das noch nicht der Fall, oder es finden sich Lösungen außerhalb Ihrer Geschäftsmodelle, die für ihre Art, Geld zu verdienen, keinen Mehrwert bringt.
Hat sich mit der Ankunft der Generationen X und Y in den Führungsriegen der Kanzleien in den Denkstrukturen etwas geändert?
Nein, diese Generation ist noch nicht am Ruder; und dort, so diese Generation schon entscheiden kann (vor allem in kleinen Strukturen), sind sie zwar offen, aber noch nicht finanzkräftig genug.
Werden es die Kanzleien nach Ihrer Einschätzung schaffen, die Herausforderungen der Disruption mit ihren eigenen Kräften / ihrem eigenen Know-How zu bewältigen, oder bedarf es zwingend externen Sachverstands?
Die Disruption sehen wir noch nicht, und ob sie kommt, ist offen. Suskind verspricht sie seit 30 Jahren; sein Geschäftsmodell ist es, diese zu versprechen, ohne aber wirklich Einfluss zu haben. Nach ihm sollte es bereits 1995 so weit sein, aber da unterschätzt er wie fast alle Autoren, Gurus und sonstige Heilsbringer den Markt, die Natur rechtlicher Beratung und das, was die Engländer „Relatedness“ nennen, also die Zähigkeit von Änderungsprozessen.
Wird sich das Einkaufsverhalten des Marktes ändern?
Die Mandanten sind zu unterscheiden:
Privatmandanten holen sich den Rechtsrat dort, wo er am billigsten und einfachsten zu erhalten ist. Bei Versicherungen wird die telefonische Hotline genutzt, die diese kostenlos anbieten, auch wenn es dort keinen unabhängigen Rechtsrat gibt, es sei denn, man geht gegen die Versicherung vor. Oder er holt sich die Infos aus dem Netz, bis hin zum kostenpflichtigen Roboter Janolaw.de. Hier sehen wir also schon Veränderungen, und diese werden zunehmen. Janowlaw existiert übrigens schon seit ca. 10 Jahren.
Die Bedürfnisse des Privatmandats unterscheiden sich somit ganz grundsätzlich von denen des Unternehmens. Der Privatmandant möchte sich in den weit überwiegenden Fällen vom Anwalt abgeholt und verstanden wissen. Er stellt sich zudem, auch bei wirtschaftlich nicht sinnvollen Auseinandersetzungen, die Frage, ob ihm der Preis für die Rechtsverfolgung diese Wert ist.
Unternehmen brauchen Lösungen, also Ansprechpartner, die komplexe Probleme schnell lösen. Hier sind bis auf weiteres Menschen Computern überlegen. In Standardthemen wie Forderungseinzug sind heute spezialisierte Anwaltskanzleien und andere Anbieter im Markt aktiv, die weitgehend automatisch Forderungen erheben und durchsetzen (etwa: Übernahme der Forderungsdaten von den Unternehmen, automatische Erstellung von Forderungsschreiben, Versand, automatische Mahnbescheidsbeantragung etc., Weiterleitung an Gerichtsvollzieher bei Erhalt eines Titels, oder Weitergabe an Anwälte zur Durchsetzung vor Gericht). Zudem haben Unternehmen ein anderes Kostenbewusstsein, als Privatmandanten. Ihre Bindung zum Anwalt basiert ganz wesentlich auf dem Aspekt des Vertrauens, welches sich der Anwalt über Kompetenz, Erfahrung, Titel aber auch die Kenntnis der unternehmensinternen Strukturen und Abläufe erarbeiten muss.
Bei komplexeren Fragen erwarten wir noch sinnvolle Lösungen, diese sind wenn, dann in einzelnen Abläufen zu finden, aber nicht als pauschaler Ersatz anwaltlicher Dienstleistungen.
Bei einzelnen Fragen sind auch staatliche Institutionen vorgeprescht, etwa der niederländische Staat bei Verfahrenshilfe: Scheidungen in Holland werden daher durch Nutzung einer elektronischen Plattform durchgeführt, bei dem weder Richter noch Anwälte notwendig sind (juripax). Hier hilft die Erfahrung, die bei Ebay mit Mediationssoftware gemacht wurde. Die oft hohen Hürden beim Zugang zum Recht werden z.B. durch derartige Automatisierung leichter überwunden werden können.
Das PWC Law Firm Survey 2015 ergab, dass 80% der befragten Anwälte sich des Umstandes bewusst seien, dass die Notwendigkeit für eine Digital Strategy besteht, um auf dem Markt bestehen zu können. Zugleich zeigte die Studie, dass lediglich 23% der Kanzleien bereits eine solche Strategie haben. Diese Angaben beziehen sich auf den britischen Markt Eine der PWC-Studie vergleichbare Erhebung existiert meines Wissens für den deutschen Markt nicht. Wenn wir Einschätzungen glauben, dass wir im deutschen Markt ca. 10 Jahren in der Entwicklung hinterherhinken, dürften die Zahlen in Deutschland noch erschreckender ausfallen? Wie ist Ihre Einschätzung?
Deutschland hinkt hinterher, aber der UK Markt ist eben auch besonders, weil dort Geld viel wichtiger ist als bei uns; Eine Digitale Strategie brauchen nur große Kanzleien; kleine Kanzleien können sich auf den innovativen deutschen Mittelstand verlassen, der ihnen zur richtigen Zeit Lösungen anbietet, die funktionieren. Hier sind wir etwa den USA um 45 Jahre voraus (dort werden derzeit die ersten ablauforientierten Kanzleisoftwares in den Markt gebracht, was RA Micro, Annotext etc. schon Mitte der Achtziger konnten).
Callum Sinclair, Partner und Head of Technology bei Burness Paull hat in einem Kommentar bei heraldscotland.com kürzlich geäußert, dass Anwälte nach der Erkenntnis über die Notwendigkeit von Veränderungen diese nun auch umsetzen müssten. Welche Möglichkeiten sehen Sie für Kanzleien im KMU-Bereich, dies zu tun? Diesen fehlt oft der finanzielle Hintergrund, radikale Veränderungen, insbesondere im technischen Bereich umzusetzen.
Wie schon gesagt, es gibt genug Dienstleister in Deutschland, die sich dieser Herausforderung annehmen und den Anwälten das Denken abnehmen werden, wie auch schon in der Vergangenheit.
In London fand am 21. Juni 2016 die unter dem Motto „ Robots and lawyers: Partnership of the future“ stehende Veranstaltung der Law Society statt. Dies zeigt m.E., dass die Kolleginnen und Kollegen im anglo-amerikanischen Bereich uns auch in den Interessenverbänden weit voraus sind. Was muss der DAV tun, um seine Mitglieder insbesondere denen in kleineren und mittleren Kanzleien eine echte Hilfe zu sein? Der DAT 2017 in Essen zum Thema „LegalTech und Innovation“ liegt noch weit vor uns und ist lediglich ein Angebot; zu wenig und (zu) spät?
Nein, da wird noch viel Wasser den Rhein herunter fließen, bis das relevant wird. Derzeit gibt es hier einen unbegründeten Hype: Ich glaube nicht, dass sich hier etwas „sprunghaft“ verändern wird, sondern vielmehr in einzelnen Abläufen und technologischen Verbesserungen, aber sicher nicht Disruption. Das wird vollkommen überschätzt. Ein Blick zurück; im Jahre 2000 meinte jeder, das Internet verändert alles: heute gibt es zwar mobile Lösungen für Anwälte, auch wurde der Zeitdruck immer größer, aber de facto haben wir kaum wirkliche Veränderungen gesehen, und auf den „virtuellen Anwalt“, der am See sitzend, mit dem Notebook auf dem Schoß, arbeitet, Geld verdient, werden wir auch noch lange warten; nicht, weil es nicht technisch möglich wäre, sondern weil viel zu viele Faktoren zu berücksichtigen sind, um so etwas umzusetzen.
Think Big, was können die Kleinen von den Großen lernen?
Keine Fehlinvestitionen machen: Linklaters hat seit 1998 eine Plattform, in dem sie für sämtliche Länder der Welt regulatorische Finanzmarktinformationen aktuell zur Verfügung stellt; das Abo kosten läppische 345.000 GBP im Jahr. Das Projekt hat nie Geld gemacht, und wer in Linklaters abgestellt wird, dieses Projekt zu betreuen, darf es getrost als Kündigung auffassen. Derzeit weiß keiner, was dieser Prozess bringen wird, außer Kostenersparnis für die Mandanten; Geld damit zu verdienen, ist nicht einfach.
Was muss der Anwalt können, um den Herausforderungen von Legal 4.0 gewachsen zu sein?
Dazu gehört mehr, als ein guter Jurist zu sein. Ein Anwalt muss heute in Prozessen denken können, er muss Fähigkeiten haben, die er nicht in der juristischen Ausbildung erlernt, wie z.B. fundierte wirtschaftliche Kenntnisse. Zudem erfordert es aber auch Fähigkeiten, die nur in Zusatzqualifikationen im Bereich des Coachings, der Mediation oder der Krisenintervention vermittelt werden. Selbstverständlich auch ein gutes technisches Verständnis. Der Anwalt muss Beziehungen verstehen, er muss empathisch sein, diese Fähigkeiten werden durch einen Computer nicht ersetzt werden können. Leider hat die Anwaltschaft seinerzeit die Chance verpasst, stärker Einfluss auf die Ausbildung zum Anwalt zu nehmen. Außer der fünfmonatigen Wahlstation im Referendariat ist nichts aus dieser Chance geworden.
Herr Vaagt, vielen Dank für das Gespräch.